Genialität und Virtuosität sind (schon der Etymologie nach) in der (deutschen) Literatur- und Kunstgeschichte stark mit Männlichkeit verknüpft, während weibliche Abweichung von der Norm nur in beschränktem Maße gewürdigt bzw. geduldet wird. Das normdurchbrechende Verhalten männlicher Genies interpretiert man gemeinhin als im Namen des Talents zu entschuldigende Begleitphänomene oder sogar „strokes of genius“, während Unkonventionalität und Experimentalität bei Künstlerinnen eher dazu führte, dass letztere stigmatisiert, pathologisiert und sogar institutionalisiert wurden (vgl. Kanz 1999). Neuere methodologische Zugänge wie die Neuroästhetik führen zwar dazu, dass auch bei männlichen Autoren wie Gustave Flaubert und Franz Kafka die Besonderheit der literarischen Ausdrucksfähigkeit mit Mustern des Savantismus oder der Neurodiversität (hier als einer neurologischen Verschiedenheit im Gehirn definiert, mit Blick auf mentale Funktionen und in einem nicht-pathologischen Sinn) in Verbindung gebracht wird; aber auch hier finden Autorinnen nach wie vor weniger Berücksichtigung.
Das Projekt setzt es sich zum Ziel, sich der literary disability studies bzw. der neueren Forschung zu embodied cognition zu bedienen, um die Art und Weise zu analysieren, wie Neurodiversität (z.B. Legasthenie, Besonderheiten im Bereich von sensory processing und heutzutage eher als Autismus-Spektrum-Störung oder Hochbegabung diagnostizierte Hyperästhesie) in der Literatur und in den Ego-Dokumenten von Autorinnen auftauchen, deren Kreativität in ihrer eigenen Zeit anhand von stärker psychopathologisierenden Deutungsmustern rezipiert worden sind. Im Fokus der Arbeit stehen Franziska zu Reventlow, Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek. Es ist nicht die Absicht, die Autorinnen aufgrund ihrer Texte oder Biographie einer Diagnose zu unterziehen. Vielmehr will das Forschungsprojekt zeigen, dass konzeptuelle, Tools aus dem Bereich der Neurophänomenologie und der literary disability studies als heuristischer Zugang zur Ästhetik der vorliegenden Literatur produktiv gemacht werden können. Dabei wird auf Merkmale wie Wortspiel und Synästhesie bzw. auf die visuelle Qualität der Sprache sowie narrative Elemente fokussiert. Gleichzeitig soll der normalisierende Impetus aktueller Konzeptualisierungen in der Konfrontation mit Autorinnen, die den Druck gesellschaftlicher Stigmatisierung am eigenen Körper erfahren haben, auf eine DSM-V-kritische Weise reflektiert werden. (vgl. dazu Feyaerts et al., im Erscheinen)
Schließlich ist es die Absicht, die Frage zu beantworten, warum der heutige Kanon Strategien der behavioristischen Narration und des prozeduralen Schreibens als Wahrzeichen männlicher Genies betrachtet, während diese mit Blick auf das weibliche Schreiben weiterhin vernachlässigt oder als unnatürlich eingestuft werden. Ging man früher davon aus, dass Neurodiversität vor allem als geistige Behinderung in Erscheinung trat und im Falle von z.B. autistischen Störungen Männer drei- bis viermal häufiger als Frauen betroffen waren, so hat sich die Diagnostik seit DSM-V erheblich geändert. Zum einen wird die Korrelation zwischen überdurchschnittlicher Intelligenz und dem Vorkommen von abweichender Entwicklung verstärkt in den Blick genommen, was zu dem Befund von „exquisite defects“ auch im literarischen Bereich Anlass geben kann. Zum anderen meldet sich im Rahmen des neuroqueer-Aktivismus immer ausdrücklicher eine Gruppe von Frauen zu Wort, die ihre Diagnose erst im fortgeschrittenen Alter erlangt haben. Somit wird deutlich, dass Frauen nach wie vor ein stärkeres masking ihrer Neurodiversität abverlangt wird. Anhand des skizzierten, zweifachen methodologischen Blickwinkels kann, so die These, eine neutralere Terminologie dafür entwickelt werden, wie aus zwar sehr kleinen physiologischen und neurologischen Unterschieden große kulturelle Differenzen und Artefakte entstehen können.